Wunsch - Märchen

Es war einmal ein armes Kind, welches tief in sein Unglück geraten war. Alles hatte es verloren: Eltern, Geschwister und Freunde, Heimat und Besitz; sogar die Erinnerung an sein wahres Alter. Nicht einmal die Hoffnung auf eine hellere Zukunft wollte bei ihm bleiben.

Lange schon war es durch die Fremde geirrt. Und nun hatte es sich in einer unwegsamen Wildniss verirrt. Kalt und finster wurde es. So lichtlos war es bald umher, daß es nicht einmal mehr die eigenen Hände vor dem Gesicht erkennen konnte.

Da verließ es auch noch der letzte Mut zum Weitergehen. Es ließ sich zur Erde niederfallen und begann bitterlich zu weinen.

"Was könnte ich noch tun?" schrie es in seiner Qual.

Nichts antwortete.

"Wo könnte ich wohl noch hingehen?"

Von Nirgends kam eine Antwort.

"Wer wartet auf mich?"

Niemand antwortete.

Da aber die Antworten unhörbar waren, erkannte das Kind seine grenzenlose Einsamkeit.

Als wirklich letztes verblieb dem Kind diese eine Frage: Was will ich tun? Hier in dieser kalten Finsternis ist kein bleiben. Es müßte mich mein Leben kosten. Doch selbst wenn ich´s behielte, wüßte ich nicht wozu. Denn wohin sollte ich mich wenden, ohne Ziel? Und hätte ich ein Ziel, wie fände ich die Richtung ohne Licht? Und hätte ich Licht, woher nähme ich die Kraft zum gehen, ohne daß mich jemand erwartet?

Nachdem es seine letzen Trauer- und Zornestränen geweint hatte, fühlte es sich entsetzlich leer.

So sagte es sich: Wenn denn mein Leben weiter keinen Sinn hat, will ich hierbleiben bis daß der Tod mich hole oder aber ein Wunder geschieht. Mein eigenes Leben gebe ich auf. Komme, was da kommen soll!

Kaum hatte es diese Worte gesagt, geschah es, daß eine wärmende Helligkeit die Welt um das Kind beleuchtete. Und wie es sich umwandte, erblickte es eine schöne Gestalt, welche es freundlich betrachtete.

Lange stand das Kind staunend und schweigend. Dann faßte es sich ein Herz und fragte: " Da du nicht der Tod bist, den ich erwarte - sage mir- bist du das Leben?"

Die Gestalt lächelte und sprach: "Das darf ich dir nicht beantworten. Aber ich kann eine Wunschfee für dich sein. Da du alles verloren hast, kannst du dir nun alles wünschen. Du hast einen Wunsch frei, der dir erfüllt werden wird. Egal, wie groß oder klein dieser Wunsch sein mag! Also überlege und wähle gut!

Das Kind sann solange darüber nach, wie es brauchte, um einen klaren Wunsch aussprechen zu können. Dann sprach es langsam und sehr bedächtig: "Mit meinem einen Wunsch wünsche ich mir zwei weitere Wünsche!"

Die Gestalt blickte ernsthaft und sprach: "Dein Wunsch ist nicht bescheiden, aber er sei dir erfüllt!"

Das Kind fuhr fort: "Mit meinem zweiten Wunsch wünsche ich, daß allen Menschen ihr herzinnigster Wunsch erfüllt wird, wenn sie bereit sind, selbst alles dafür zu tun, was zu seiner Erfüllung notwendig ist."

Die Gestalt blickte wieder das Kind ernsthaft an und sprach: "Dein Wunsch ist nicht vernünftig, aber er sei dir erfüllt!"

Das Kind sprach weiter: "Und mit dem dritten und letzten Wunsch wünsche ich, daß alle diese Wünsche aller dieser Menschen im Einklang mit dem Willen Gottes, unseres Schöpfers, sind!"

Die Gestalt blickte das Kind immer noch ernsthafter an, lächelte aber dann und sprach: "Dein Wunsch ist nicht erfüllbar, deshalb wird er sich selbst erfüllen!"

"Du aber", sprach sie als letzte Worte zu dem Kind, "hast nichts für Dich gewünscht, obwohl alles hätte dein sein können. Deshalb sollst du frei sein! Wer aber ICH bin, wirst DU auf deinem Weg erkennen."

Der Morgen war heraufgedämmert, so daß das Kind seinen Weg klar vor sich liegen sah. Und da es nicht gestorben ist, ist es sicher noch auf dem Weg nach Hause.

21. 6. 19/91

 

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