Notausgang

Ausgänge aus unangehmen Situationen habe ich mir in meinem Leben immer wieder einmal gewünscht. Die Ahnung, dass Abbrechen oder Aufgeben einer unbewältigten Situation stets dahin führt, erneut damit konfrontiert zu werden, ließ mich bereits in jungen Jahren darüber nachgrübeln, ob es keinen einfachen Ausweg gäbe.

Ein besonderes Schlüsselerlebnis ist mir gut in Erinnerung. Während der Jahre meiner Schulpflicht gab es Phasen, in denen ich mich demassen unwohl fühlte, dass ich begann ernsthaft zu wünschen, jemand anderes zu sein. Jemand wie z.B. mein Mitschüler J.S., der anscheinend spielend mit seinem Leben zurecht kam, in vielerlei Hinsicht erfolgreich war und trotzdem von der ganzen Klassengemeinschaft nicht als Streber angesehen wurde. Einer, der von den Anderen als "richtig klasse" bezeichnet wurde. In meinem damaligen Verständnis war das ziemlich genau der Inbegriff eines glücklichen Menschen.

Wenn ich mich richtig erinnere - ich war damals etwa 14 Jahre alt- erwachte ich eines Morgens mit der angenehmen Traumerinnerung auf,  J.S. gewesen zu sein. Beim Wacherwerden verwandelte sich mein Befinden in ein unangenehmes Gefühl zunehmender Irritation. Nach anfänglichern Bedauern, doch nur wieder ich selber, Peter zu sein mit den sattsam bekannten Problemen, dämmerte mir allmählich das Bizarre der Situation: Während des Traumes hatte ich ohne Zweifel angenommen J.S. zu sein, war voll mit ihm identifiziert - und eben nicht mit mir selbst. In diesem Traum war "ich selber" als Peter gar nicht vorgekommen! Und wenn der Traum nun Wirklichkeit wäre, so wie ich es beim Erwachen ersehnt hatte? Welche Verbesserung wäre gewonnen, wenn ich nicht gleichzeitig weiß, daß ich nicht mehr der Andere bin, dem es nicht gut geht?

Allmählich stellte sich die Klarheit ein, dass aber auch wirklich gar nichts sich verändern würde, wenn ich J.S.wäre. Es gäbe weiterhin J.S und P.A. Beide wären sich nicht über ihre ausgewechselte Situation bewußt. Wir würden beide nicht einmal bemerken, daß sich irgend etwas verändert hätte. Ein Tausch ergäbe nur dann Sinn, wenn damit zugleich die Erinnerungsfähigkeit verbunden wäre, zuvor jemand anders gewesen zu sein. 

Und, fast noch gewichtiger - falls so ein Wechsel möglich sein würde, hätte es in Umkehrung des positven Effekts die bittere Konsequenz, das J.S. sich als P.A. eines Verlustes bewußt wäre!  Nein, unter diesen Umständen würde ich mir so eine "Problemlösung"  nicht wünschen - auch wenn es sich nur um eine Phantasie handelte, wollte ich diese aus Fairnessgründen ablehnen. Es blieb die unerfreulich verstärkte Gewissheit der Unvermeidbarkeit, ich selber zu sein. Also, wie vorher auch, Zähne zusammenbeissen - und weitermachen...

Erst viele Jahre später wurde mir bewußt, wie wertvoll diese "philosophische Erkentnis" war und weiterhin werden könnte. Die unerlöste Fluchphantasie begegnete mir Jahre später erneut.  In dieser Lebensphase, etwa mit 20 Jahren, hatte sich in mir die Überzeugung verdichtet, es wäre für mich und überhaupt Alle besser, wenn ich nicht (mehr) existieren würde, wenn ich einfach nicht mehr da wäre? Das ganze Knäul der anscheinend unlösbaren Probleme wären auf einen Schlag nicht mehr vorhanden.

Ja --- aber--- für wen wären sie dann nicht mehr existent? Wem nützt ein Wegfallen von Problemen, wenn er es nicht erleben kann, weil es ihn nicht (mehr) gibt? Es gäbe kein Problem mehr, aber auch keinen Peter mehr. Da ich ehrlich mit mir selbst war, bestand mein Bedürfnis nur in der Flucht und eindeutig nicht darin, nicht zu sein. Was hätte ich denn für mich selbst gewonnen? Also, wie vorher auch, Zähne zusammenbeissen - und weitermachen...

In späteren Jahren verbot sich mir aus Gründen von Reinkarnation und Karma, von deren Existenz und Wirksamkeit ich lange überzeugt war, ein Wegschleichen aus problembeladenen Situationen. Ich befürchtete, in neuen Leben vor wiederholte, zusätzlich erschwerte Aufgaben gestellt zu werden. Also, wie vorher auch, Zähne zusammenbeissen - und weitermachen...

Inzwischen hat die traditionelle Vorstellung von Reinkarnation und Karma nicht mehr diese Bedeutungsschwere für mich. Selbst die Vorstellung des endgültigen Verlöschens hat seinen Reiz für mich verloren, seit ich weiss, wer ich bin und dass es nichts gibt, das nicht verzeihbar wäre. Meine Angst ist zu ihrer Berufung als fürsorgliche Wächterin zurückgekehrt und hat ihre Scheintüren wieder an sich genommen. In der Liebe sind wir frei, zu sein, was wir wollen. Und  - meine Zähne werden es mir sicher danken...

27. 8. 2004

zurück